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Pressemitteilung vom 29.07.2025: Solingen-Prozess: Plädoyers vorgelegt – zentrale Fragen bleiben offen

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Pressemitteilung der OBR vom 29.07.2025 zum Prozess zum Brandanschlag in Solingen 2024:

Plädoyers vorgelegt – zentrale Fragen bleiben offen

Solingen-Prozess: Plädoyers vorgelegt – zentrale Fragen bleiben offen

Opferberatung: „Gerechtigkeit ist mehr als die Anzahl der Haftjahre – es braucht Aufklärung, Anerkennung und Konsequenzen.“

Im Verfahren zum tödlichen Brandanschlag in Solingen 2024 haben heute Staatsanwaltschaft und einige Vertreter der Nebenklage ihre Plädoyers gehalten. Die Staatsanwaltschaft fordert die Höchststrafe – lebenslange Freiheitsstrafe, Feststellung der besonderen Schwere der Schuld, mit anschließender Sicherheitsverwahrung. Eine politische Motivation der Tat erkennt sie jedoch nicht an. Im Gegenteil: Der Staatsanwalt verwendet gut die Hälfte seines Plädoyers darauf, auch nur den Verdacht eines rassistischen Tatmotivs als „vorurteilsgeleitet“ zu kritisieren, sowie Nebenklagevertreter*innen, Presse und kritische Zivilgesellschaft für „unverschämte Unterstellung“ zurechtzuweisen. Die Nebenklagevertreter betonen hingegen alle: Es ist die Verantwortung der Nebenklage, für eine gründliche Ermittlung einzutreten. Ebenso ist es Aufgabe von Zivilgesellschaft und Presse, auch gerichtliche Vertreter*innen zu kritisieren, und sie auf ihre Versäumnisse hinzuweisen. Es gibt weiterhin offene Fragen – und viel zu viele unbeantwortete Hinweise, die nicht konsequent verfolgt wurden.

Vier Menschen wurden bei dem Anschlag getötet, mehrere teils schwer verletzt – eine Familie konnte sich nur durch einen Sprung aus dem dritten Stock retten. Seit Prozessbeginn im Januar kämpfen die Hinterbliebenen und Überlebenden für Gerechtigkeit. Doch das Verfahren hat deutlich gemacht: Viele zentrale Fragen – insbesondere zur Tatmotivation – wurden nicht umfassend geprüft.

Fehlende Aufklärung – zerstörtes Vertrauen

Im Laufe des Prozesses wurde sichtbar: Die Ermittlungen waren lückenhaft, verzögert und nicht traumasensibel. Zentrale digitale Daten wurden monatelang nicht ausgewertet. Hinweise auf rechtsextreme Inhalte wurden teilweise gar nicht dem Täter zugeordnet oder als nicht relevant eingestuft. Ermittlungen, die vor Prozessbeginn hätten abgeschlossen sein müssen, fanden teilweise noch während des Verfahrens unter Zeitdruck statt. Dabei wurde im Prozess deutlich: Im Umfeld des Täters finden sich zahlreiche rechtsextreme Bezüge – von NS-Material in der Wohnung des Vater bis zu Kontakten ins identitäre Milieu. Auch der psychiatrische Gutachter zeichnete das Bild eines Menschen, der sich durch die Herabwürdigung anderer stabilisiert und sich an der vermeintlichen Stärke nationalsozialistischer Täterfiguren orientiert. Dennoch wurde all dies nicht als hinreichend gewertet, um Rassismus als Teil des Weltbildes des Täters anzuerkennen. Stattdessen stützten sich die Ermittlungsbehörden maßgeblich auf die Aussagen von Partnerinnen, die ein rechtes Weltbild des Täters verneinten Diese weisen, wie durch die Recherchearbeit der Initiative Adalet Solingen bekannt wurde, teils selbst mit Nähe zu verschwörungsideologischen Inhalten auf. Außerdem benannte der psychiatrische Gutachter, dass die Partner*innen des Täters zu dessen Idealisierung neigen. Die Frage stellt sich: Wie glaubwürdig ist die Bewertung eines politischen Motivs, wenn zentrale Kontexte nicht konsequent aufgearbeitet und ideologische Anknüpfungspunkte im familiären und persönlichen Umfeld nicht berücksichtigt werden? 

„Viele dieser Versäumnisse wiegen schwer. Sie sind nicht nur ein juristisches Problem, sondern ein emotionales – für die Betroffenen, die um Antworten ringen“, so Jan-Robert Hildebrandt, Berater der Opferberatung Rheinland.

In der psychiatrischen Begutachtung wurde die Auswahl der Tatorte auf persönliche Konflikte des Täters zurückgeführt. Damit verschiebt sich der Fokus – und zugleich bleibt die Frage offen:
Wie kann unter diesen Umständen sicher ausgeschlossen werden, dass Rassismus eine Rolle gespielt hat?

„Die Betroffenen fordern keine vorgefertigten Antworten. Sie fordern, dass alle relevanten Fragen gestellt – und ernsthaft geprüft – werden. Das ist nicht geschehen. Und das ist für sie kaum auszuhalten“, erklärt Hildebrandt.

Kein Abschluss ohne Anerkennung

Dass eine Anerkennung des rassistischen Tatmotivs bislang ausbleibt, hat schwerwiegende Konsequenzen – emotional, sozial, politisch und materiell. Für viele Betroffene bedeutet es, mit dem Gefühl zurückgelassen zu werden, dass ihnen nicht geglaubt wird. Es bedeutet, dass sie mit offenen Wunden im Stich gelassen werden, die kaum verheilen können. Und es bedeutet: Mögliche Entschädigungen, Hilfen oder Unterstützungsleistungen sind ungewiss.

„Die Frage nach dem Warum ist zentral für jede Verarbeitung. Wenn genau diese Frage offenbleibt, ist Gerechtigkeit nicht erreicht“, so Sabrina Hosono, Bildungs- und Öffentlichkeitsreferentin bei der Opferberatung Rheinland.

Forderung nach unabhängiger Aufarbeitung

Der Fall Solingen reiht sich ein in eine lange Reihe von Gewalttaten gegen Menschen mit Migrationsgeschichte, bei denen mögliche rassistische Motive von Ermittlungsbehörden nicht systematisch geprüft wurden. Dabei wäre es nach den Erkenntnissen aus dem NSU-Komplex längst geboten, genau diese Perspektive proaktiv mitzudenken. Dass dies erneut nicht geschah, hat gravierende Folgen – für die Wahrheitssuche, für das Vertrauen in staatliche Institutionen, für die Betroffenen selbst.

„Der Staat hat sein Schutzversprechen nicht eingelöst. Und wer strukturelle Fehler nicht aufarbeitet, verschärft das Leid der Hinterbliebenen ein zweites Mal“, kritisiert Hosono.

Die Hinterbliebenen sind für die letzten Prozesstage erneut nach Deutschland gereist – emotional wie finanziell ist das eine enorme Belastung. Eine Spendenkampagne zur Unterstützung bei Grabkosten, Begleitung und Nachsorge läuft weiter:

www.goodcrowd.org/solingen-2024

„Was die Betroffenen derzeit durchstehen, ist kaum in Worte zu fassen. Jede Form von Solidarität zählt – gerade jetzt“, so Hosono. Es ist bewegend zu sehen, wie viele Menschen schon gespendet haben – aber die Herausforderungen hören mit dem Urteil nicht auf. Auch danach werden die Betroffenen weiter Unterstützung brauchen.“

 

Im Anschluss an die Urteilsverkündung am Mittwoch, 30. Juli, laden Betroffene, die Opferberatung Rheinland sowie das Bündnis „Wuppertal stellt sich quer“ zu einem Pressegespräch mit Nebenklageanwältin Seda Başay-Yıldız  vor dem Landgericht Wuppertal ein.

Kontakt für Rückfragen, Interviews & Hintergrundinfos:

Jan-Robert Hildebrand
Berater im Fall
Mobil: 0178 / 157 00 47
Mail: jh@opferberatung-rheinland.de

Sabrina Hosono
Bildungs- und Öffentlichkeitsreferentin
Mobil: 0163 699 7006
Pressekontakt: presse@opferberatung-rheinland.de