Düsseldorf, 01.08.2025
Gemeinsame Stellungnahme von „Wuppertal stellt sich quer“ und der Opferberatung Rheinland
„Wer nicht hinschaut, macht sich mitschuldig – Was das Urteil von Solingen 2024 über den Zustand der Justiz, der Gesellschaft und über uns alle sagt“
Am 30. Juli 2025 endete der Prozess zum Brandanschlag in Solingen 2024, bei dem vier Menschen ihr Leben verloren und mehrere schwer verletzt wurden. Das Urteil lautet auf Mord in vier Fällen, schwere Brandstiftung, gefährliche Körperverletzung und versuchten Mord. Der Täter wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Doch trotz der Schwere der Tat und der Vielzahl rechter, rassistischer und menschenverachtender Inhalte, die beim Täter gefunden wurden, wird ein rassistisches Motiv vom Gericht nicht anerkannt.
Diese Entscheidung ist keine Randnotiz – sie ist ein Symptom. Sie ist Ausdruck einer Justiz, die bis heute Schwierigkeiten hat, Rassismus als Struktur zu erkennen. Sie ist Ausdruck eines Sicherheitsapparats, der immer wieder wegsieht, solange Täter weiß, „unauffällig“ oder „unpolitisch“ erscheinen. Und sie ist Ausdruck einer politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der rechte Gewalt bagatellisiert, entpolitisiert oder psychologisiert wird – auf Kosten der Betroffenen.
Rassismus ist keine Privatmeinung – sondern eine tödliche Realität
Was in Solingen 2024 geschah, war kein tragischer Einzelfall, keine persönliche Krise, kein „emotionaler Ausnahmezustand“. Es war ein Brandanschlag mit tödlicher Konsequenz – geplant, vorbereitet, durchgeführt mit dem erkennbaren Ziel, Menschen zu töten. Die Auswahl des Hauses, die Geschichte der Betroffenen, die Fülle an NS-Material, antisemitischen und rassistischen Inhalten auf den Datenträgern des Täters – all das spricht eine klare Sprache. Dass diese Sprache von Gericht, Staatsanwaltschaft und Teilen der Verteidigung nicht gehört oder sogar verspottet wurde, ist ein Skandal.
Rassismus ist keine Haltung, die man dem Täter erst „nachweisen“ muss, um sie benennen zu dürfen. Rassismus ist eine Struktur – sichtbar in der Auswahl des Tatorts, in der Geschichte rechter Gewalt in Solingen, in den Versäumnissen der Ermittlungen und im Schweigen der Behörden. Ihn zu ignorieren, ist keine Neutralität. Es ist Parteinahme – gegen die Betroffenen.
Justiz als Schutzraum für Täter? Über Deutungshoheit und institutionelles Versagen
Der Prozessverlauf zeigte deutlich: Die Deutungshoheit darüber, was diese Tat war, lag nicht bei den Betroffenen. Sondern beim Täter, der sie bis heute leugnet. Beim Staatsanwalt, der mehr Zeit aufwendete, rassistische Motive abzustreiten, als aufzuklären. Bei einem Verteidiger, der sich offen über Opfer und mit ihnen solidarische Menschen lustig machte. Und bei einem Gericht, das sich in psychologischen Erklärungen verlor, statt den gesellschaftlichen Kontext der Tat zu benennen.
Der Preis für diese strukturelle Ignoranz? Betroffene, die erneut zu Bittsteller*innen werden. Eine Öffentlichkeit, die die Verantwortung tragen muss, die Behörden verweigern. Und ein Urteil, das gefährliche Signale sendet: Dass Rassismus nur dann anerkannt wird, wenn Täter ihn freiwillig gestehen. Dass rechte Gewalt nicht als solche benannt werden muss. Dass das System funktioniert – auch wenn es versagt.
Kritische Öffentlichkeit ist kein Störfaktor – sondern überlebenswichtig
Ohne die beharrliche Arbeit von Nebenklageanwält*innen wie Seda Başay-Yıldız, ohne die Angehörigen, ohne kritische Journalist*innen, ohne Initiativen wie Adalet Solingen – vieles wäre nie ans Licht gekommen. Der „Tritt in den Hintern“, wie es ein Verteidiger selbst nannte, war notwendig, um überhaupt ernsthaft in Richtung rassistisches Motiv zu ermitteln.
Das zeigt: Zivilgesellschaft und kritische Öffentlichkeit sind keine Beobachtenden am Rand – sie sind zentrale Akteure in der Aufklärung rechter Gewalt. Sie fordern Gerechtigkeit ein, wo der Staat sie verweigert. Sie stellen Fragen, wo die Justiz sich im Schweigen einrichtet. Sie machen Druck, wo Behörden versagen.
Was dieses Urteil bedeutet – und was jetzt zu tun ist
Das Urteil von Solingen ist ein Urteil gegen den Täter – aber kein Urteil gegen den Rassismus. Es spricht von Schuld, aber nicht von Struktur. Es benennt ein Verbrechen, aber nicht den gesellschaftlichen Kontext, der es möglich machte.
Wir sagen: Das reicht nicht.
Wir sagen: Es darf nicht dabei bleiben.
Wir sagen: Wir erinnern. Wir klagen an. Wir organisieren uns.
Dieser Fall zeigt einmal mehr: Juristische Prozesse brauchen eine kritische öffentliche Begleitung.
Solingen ist überall, solange rechte Gewalt nicht konsequent benannt, aufgeklärt und politisch bekämpft wird. Es braucht strukturelle Konsequenzen:
- Eine unabhängige Untersuchungskommission zur Aufarbeitung der Ermittlungsarbeit im Fall Solingen 2024.
- Verpflichtende Schulungen für Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz zu rassismuskritischer Ermittlungsführung.
- Transparente Konsequenzen, wenn Hinweise auf politisch motivierte Gewalt ignoriert oder bagatellisiert werden.
- Eine unabhängige Kontroll- und Beschwerdestelle bei rassismusbezogenem Fehlverhalten von Ermittlungsbehörden in NRW.
- Eine verbindliche Beteiligung von Betroffenen und Fachstellen bei der Weiterentwicklung von Leitlinien und Standards zum Umgang mit rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt.
Und es braucht eine Gesellschaft, die sich klar positioniert. Die nicht erst reagiert, wenn es wieder Tote gibt. Die nicht Täter schützt, sondern die Opfer. Die sich erinnert – und Konsequenzen zieht.